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Fußball auf KZ-Gelände

Auf dem Gelände eines Dachauer KZ-Außenlagers wurde 1953 Deutschlands größte Siedlung für „displaced persons“ gebaut. Im Nirgendwo zwischen MAN und Ackern vom Rest der Stadt isoliert, blieb den Flüchtlingen aus 22 Nationalitäten für die Freizeit nichts als Fußball - bis heute.

Schwer zu sagen, wo der Fußballplatz aufhört. Der Rasen geht in Wiesen über, die Wiesen enden am Horizont. Aber wer in Ludwigsfeld wohnt, weiß wo die Siedlung aufhört und wo die Einöde anfängt. Selbst der Fußballplatz hat hier etwas mit Geschichte zu tun.

Johann Riesz, Schriftführer des Vereins T.S.V. Ludwigsfeld steht am Platz. Er streicht sich durch die spärlichen, dunkelblonden Haare, streckt dann den Arm aus, streift über den Platz: „Hier stand früher alles voller Baracken.“ 22000 Menschen waren hier gefangen. Gefangene des Dachauer „KZ-Außenlagers Allach I“. Als die Amerikaner das Lager befreiten, lebten noch 9997.

Fußballschuhe liegen in der Ecke auf dem Ziegelboden, der Spielplan hängt an der Wand, kalter Schweißgeruch liegt in der Luft. Das ist kein Vereinsbau, einfach zu düster und zu trist. Die spärliche Beleuchtung macht die niedrigen, engen Räume der Baracke noch kleiner. Vor knapp 55 Jahren waren hier drin fast 300 Menschen zusammengepfercht. Draußen blättert die gelbe Farbe von den Betonwänden der Baracke ab. Am Eingang prangt rot-weiß das Emblem des T.S.V. Gegründet 1958. An der Rückseite des Gebäudes ist eine Gedenktafel für die „vielen Tausend Häftlinge, die vom 19. März 1943 bis zur Befreiung am 30. April 1945 hier für die Rüstungsproduktion arbeiten mussten“ angebracht.

Auf dem Schotterplatz zwischen Umkleidebaracke und Platz drängen sich die Autos. München, Dachau, Starnberg verraten die Kennzeichen - die Zuschauer reisen von weit her an, um an einem Samstagnachmittag ein Kreisligaspiel zu verfolgen. Gegen Phönix Schleißheim spielen die Ludwigsfelder heute. Die Jungs in ihren Trikots spucken, schwitzen und trinken. Die Mädchen in den knappen Cheerleaderkostümen postieren sich am Spielfeldrand und lassen zu den aktuellen Nr.1 Hits der Charts ihre rot-weißen Puscheln tanzen. Viele alte aber auch junge Männer sitzen da und erstaunlich viele Frauen. Wer einmal in Ludwigsfeld gewohnt hat, kommt zumindest zum allwöchentlichen Fußballspiel hierher zurück. Diese Menschen scheint eine dem Fremden unbekannte Gemeinsamkeit zu verbinden.

Riesz - hageres Gesicht, graue Bartstoppeln - hat die Hände in den Taschen der schwarzen Regenjacke vergraben. Er steht unter dem Holzverschlag am Spielfeldrand, schaut über den Platz in die Ferne. 1953, mit sechs Jahren, stand der 52jährige zum ersten Mal hier draußen. Seine Eltern waren aus dem jugoslawischen Apatin nach Deutschland geflohen. In Ludwigsfeld trafen sie Freunde aus der alten Heimat.

"Es gab damals nichts außer Fußball hier draußen". Ekram Kurbanoglu sieht aus wie ein wohlgenährter Franz Beckenbauer. Braungebrannt, die schwarzen Haare leicht gelockt, eine schicke Drahtbrille und ein sanftes Lächeln auf den Lippen. Kurbanoglu, 51, trainiert heute den T.S.V. Mit 13 Jahren begann er im Gründungsteam zu kicken. "Alle Freunde kamen aus Ludwigsfeld und alle Ludwigsfelder spielten im Verein." Die hatten ähnliche Lebensgeschichten und Probleme. Kurbanoglus Vater war Muslime. Er kam aus Aserbaidschan, kämpfte in der Roten Armee gegen Nazideutschland, wurde gefangen genommen, kam in die Wehrmacht. Die Amerikaner setzten ihn an der Rhön fest. Hier traf er Kurbanoglus Mutter, eine aufrechte Protestantin namens Ilse. Die beiden wanderten von Flüchtlingslager zu Flüchtlingslager und landeten schließlich, wie alle anderen ohne Heimat, in Ludwigsfeld. Kurbanoglu hat keinen Religionsunterricht besucht und den Ramadan ein einziges Mal mitgemacht. Denkt er an seine Jugend, fällt ihm neben dem Streit zwischen Vater und Mutter über Religion vor allem der Elfmeter ein, den er beim Aufstiegsspiel in die Landesliga verschoss. So ging's 1:1 aus und der T.S.V. blieb Bezirksmeister.

Einer der alten Männer auf der Holzbank grinst in sich hinein, während Kurbanoglu seinem verschossenen Elfmeter nachtrauert. Wolfgang Hofmann hat mit seinem Bruder den Fußballclub gegründet. Die Hand am Gehstock zittert, als er in Richtung MAN zeigt. "Da auf dem Werksportplatz haben wir angefangen zu spielen." Da standen Anfang der 50er noch die Flüchtlingsbaracken des DP-Lagers. Die Hoffmanns hatte es aus Schlesien dorthin verschlagen. Der Vater hatte in der Wehrmacht gekämpft, war in Allach in einem der amerikanischen Gefangenenlager inhaftiert. Übers Rote Kreuz fand die Familie ihn, die Mutter kam mit den zwei Kleinen aus Schlesien nach München. Dort blieben sie. Ein Wehrmachtssoldat konnte Anfang der 50er schwer ins nun wieder polnische Schlesien zurückkehren. Und so blieben sie in Ludwigsfeld. Und so begann Wolfgang Hoffmann mit den Kindern von Armeniern, Aserbaidschanern, Osseten, Serben, Tataren und Ukrainern Fußball zu spielen. Es war in Ludwigsfeld nichts besonderes, wenn ehemalige Wehrmachtssoldaten mit Verschleppten Tür an Tür wohnten.

"Die Vorgänger-Mannschaft des T.S.V. hatte keine Disziplin, wir konnten uns auch kaum richtig verständigen, weil alle Ausländer waren." Disziplinlose Ausländer“ aus seinem Mund klingt merkwürdig. Hoffmann sieht sich wohl nicht als einer. Aber die klaren Augen unter den weißen, buschigen Augenbrauen leuchten, er beginnt schelmisch zu grinsen, als er sich an die disziplinlosen Spiele erinnert: "Einmal hat einer dem Schiedsrichter den Ball an den Hinterkopf geworfen. Dieser fiel um, stand später auf und brach das Spiel ab". Irgendwann traute sich kein Schiedsrichter mehr nach Ludwigsfeld. Daraufhin gründete Hoffmann mit seinem Bruder den T.S.V.

Er holt mit seinem Gehstock aus und klopft einem kleinen Mann mit weißen Haaren und einem breiten Al-Pacino-Grinsen im Gesicht auf die Schulter. Sergio Galassi. Noch ein Veteran aus alten T.S.V. Tagen. Ihn lernte Hoffmann bei M.A.N. kennen. Er war Sattler, Galassi Lackierer. Er war Flüchtling, kam aus Schlesien, Gallassi ein Gastarbeiter aus Süditalien.

Heute treffen sie sich bei den Heimspielen in Ludwigsfeld. Sie wohnen schon lange nicht mehr hier. Wer noch konnte, wanderte in den 60er Jahren Richtung USA, Kanada, Australien aus oder zog in die Stadt. Anfang der 70er Jahre überalterte Ludwigsfeld. Dann zogen einige Gastarbeiterfamilien dazu, vor allem aber wurde eine neue Generation gebürtiger Ludwigsfelder groß, die nicht mehr an Auswanderung dachte. Heute spielen wieder fast 90 Jugendliche im Verein.

Hoffmann und Galassi erzählen die gleichen Geschichten von damals, das Wort „Zusammenhalt“ fällt öfters. Hoffmann sagt, er komme immer wieder zu den Spielen hierher, um alte Kameraden zu sehen. Kamerad Galassi nennt sie Kollegen. So hart wie heute waren die Spiele damals nicht. Da ging es um Technik und vor allem ums Zusammensein. Über die Bezirksliga ist der T.S.V. nicht herausgekommen. Heute krebst er im oberen Drittel. Hoffmann ist trotzdem zufrieden: "Bei 1000 Einwohnern in der abgelegenen Siedlung hier draußen haben wir nicht das Geld Spieler zu kaufen. Es spielen halt die Leute aus dem Ort - da haben wir nicht den Riesenerfolg, aber es ist der beste Weg."

( 2000 – Konrad Lischka / 2006 – Renate Demel, überarbeitete Fassung)

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