StartseiteHinweis in eigener SacheLeserbriefeIrene Jazenko 22.09.2008


Liebe Ludwigsfelder, liebe Freunde, Nachbarn, Mitstreiter und Sympathisanten,

diese Zeilen schreibe ich mit sehr gemischten Gefühlen, mit Liebe zu Ludwigsfeld, mit Traurigkeit und vor allem mit ohnmächtiger Wut. Sie werden sicherlich nicht sachlich sein, sondern sehr emotional - und dem einen oder anderen werden sie nicht gefallen.

Auslöser war eine schlaflose Nacht, in der ich mich mit "Zappen" abzulenken versucht habe. Aber nicht im TV, sondern in der so perfekt, informativ und vor allem so liebevoll gestalteten Ludwigsfelder Website. Wieder einmal war ich sehr berührt. Die Einträge von ehemaligen Ludwigsfeldern im Gästebuch zeigen, dass es nicht nur mir so geht.
Ein riesengroßes Dankeschön an die Macher. Das ist gelebtes und gefühltes Ludwigsfeld!

Wir Ludwigsfelder, verschiedenste Nationen und Religionen auf engstem Raum zusammengewürfelt, haben im Laufe der Zeit vieles lernen müssen. Zum Teil leben wir bereits in der vierten Generation zusammen. Wir haben versucht, tolerant miteinander umzugehen, auch den Schwachen unserer Gesellschaft Achtung entgegenzubringen und die Individuen zu respektieren, selbst wenn sie von der Norm abweichen.

Wir helfen uns gegenseitig. Unsere Senioren werden, so lange es irgend möglich ist, nicht in Altenheime abgeschoben, sondern von ihren Kindern, Kindeskindern und Nachbarn betreut. Kinder können einfach laufen, spielen, toben, ohne ständig unter Aufsicht der Eltern stehen zu müssen, weil wir aufeinander aufpassen. Und, und, und. Es gäbe noch so viel dazu zu sagen. Natürlich ist uns das nicht immer bewusst, dass wir in einem kleinen Paradies leben, aber immer öfter. Doch leider erreichte uns ein mittleres Erdbeben im Paradies. Unsere Gemeinschaft droht auseinanderzufallen.

Vor über 50 Jahren hat der Bund unsere Siedlung sozusagen geschenkt bekommen. Sie wurde aus Marshall-Plan Geldern für "Displaced Persons", ehemalige Zwangsarbeiter und andere heimatlose Menschen auf ehemaligem KZ-Gelände errichtet.

Und dann hat der Bund diese Menschen wieder vergessen. Er hat die Häuser bis zu einem Zustand der Verwahrlosung verrotten lassen und lediglich die allernotwendigsten Instandhaltungsmaßnahmen vorgenommen und das auch nur, wenn es gar nicht mehr anders ging. Die Bewohner jedoch haben viel Arbeit, Zeit, Geld und Liebe investiert. In ihre Wohnungen, in ihre Gärten und in ihre beispiellose Gemeinschaft.
Wir Ludwigsfelder haben uns eine wirkliche Heimat geschaffen.

Doch dann sollten wir verkauft werden, der Bund verscherbelte sein Tafelsilber. Und ich sage bewusst "wir" und nicht "die Siedlung". Denn "wir", das sind Menschen, hinter denen Schicksale stehen, es geht nicht nur um marode Häuser und schnöden Mammon. Aber das wollte keiner wissen, man wollte sich ganz elegant (schließlich hat der Bund ja alle Liegenschaften verkaufen wollen, nicht nur Ludwigsfeld) seiner historischen und menschlichen Verantwortung entledigen.

Wir haben alles versucht. Wir haben gekämpft, wir haben gebeten, wir haben gefordert, wir haben uns an alle politischen Gremien gewandt: An den Oberbürgermeister, an den Finanzminister, den Außenminister, an die Bundeskanzlerin (von der wir übrigens nicht einmal einen lapidaren Formbrief als Antwort erhalten haben), an Abgeordnete, den Bundestag, wir sind bei der Familienministerin vorstellig geworden, die ja für viele Millionen Mehrgenerationenhäuser erschaffen will (welch eine Ironie des Schicksals). Wir haben auch viele andere Personen des öffentlichen Lebens um Unterstützung gebeten. Nur den Papst haben wir ausgelassen. Wir haben die regionalen und überregionalen Medien mobilisiert, wir haben nächtelang Briefe formuliert, bis die Köpfe geraucht haben, wir haben Telefonate geführt, bis die Ohren geglüht haben, wir haben geschrieben, bis die Finger gekracht haben - immer zwischen Hoffnung, Enttäuschung und Resignation hin und her geworfen.

An dieser Stelle möchte ich mich im Besonderen bei Frau Grünwald bedanken für ihren unermüdlichen Einsatz, der über alles hinausgegangen ist, was man sich vorstellen kann. Sie lebt zwar nicht bei uns in Ludwigsfeld, ist aber in unseren Herzen - und ich glaube auch in ihrem - schon lange zu einer ganz echten Ludwigsfelderin geworden.

Als der Oberbürgermeister bei unserer Einwohnerversammlung war und so eindrucksvoll beteuert hat, dass die Stadt nicht zulassen wird, dass wir an einen privaten Investor verkauft werden, haben wir uns schon fast in Sicherheit gewähnt. Aber es wurde dann doch jahrelang auf unserem Rücken gepokert, bis das Spiel zwischen Bund und Stadt aus war. Es ging um einen absolut lächerlich geringen Kaufpreis, der letztlich nicht aufgebracht wurde, was uns bis heute vollkommen unbegreiflich ist. Auch die Stadt hätte im Endeffekt davon profitiert.

Der Krimi hatte eine Fortsetzung, es kam unter anderen ein privater Investor ins Spiel, dem wir anfangs sehr misstrauisch gegenübergestanden sind. Wir konnten aufgrund aller negativen Erfahrungen nicht glauben, dass plötzlich der Weihnachtsmann mit einem Sack voller Geschenke vom Himmel fällt. Es sah aber tatsächlich so aus, als könnte noch alles gut werden: Keine Umwandlung in Wohneigentum, eine sehr moderate zu erwartende Mieterhöhung, eine sehr rücksichtsvolle Sanierung mit tragbaren Umlagekosten, Berücksichtigung von wichtigen Mieterwünschen und das Angebot eines Vertrages (dies wurde auch dem Stadtrat vorgetragen), der bei Vertragsbruch, Zahlungen von Strafen an jeden einzelnen Mieter beinhaltete. Herr Kerscher als Unternehmer hat gezeigt, dass Profit und menschliche soziale Verantwortung durchaus vereinbar sind, wenn man es nur will.

Wieder wurde unermüdlich gekämpft, geschrieben, telefoniert, gerührt und gekocht. Es war ja bei dem sehr sozialen und preislich durchaus akzeptablen Angebot und weiterer signalisierter Verhandlungsbereitschaft von Herrn Kerscher überhaupt nicht zu begreifen, dass die Entscheidungsverantwortlichen anders handeln sollten als verantwortlich.

Doch es kam anders - alles war umsonst - wir wurden für dreißig Silberlinge verraten und verkauft, genau so, wie es auf dem Plakat über den Geschäften zu lesen war. Und dazu steh ich, auch wenn gewisse Politiker im Viereck springen wie Rumpelstilzchen, weil wir Ludwigsfelder ja so undankbar sind.

Einiges wurde zwar erreicht, der Kaufvertrag beinhaltet u.a. einen lebenslangen Kündigungsschutz der Mieter, schließt für 15 Jahre Umwandlung in Wohneigentum aus und auch Luxussanierung. Aber die zweite Generation wäre dann zwischen 70 und 80 Jahre alt und dann???

Und wenn ich diese Argumente nur höre "Ja, dann müssen die Leute halt Wohngeld oder sonstige staatliche Hilfen in Anspruch nehmen" könnte ich vor Wut an die Decke gehen. Man müsste meinen, man hätte es mit denkenden Menschen zu tun, die durchaus in der Lage wären, zu begreifen, was das für eine Milchmädchenrechnung ist. Die öffentliche Hand nimmt in die linke Tasche einen verschwindend geringen höheren Betrag durch so einen Verkauf ein, muss aber aus der rechten Tasche über einen langen Zeitraum Leistungen erbringen, weil sich die Menschen die Miete nicht mehr aus eigener Kraft leisten können. Wo bitte ist denn hier die Logik? Ach so, na klar, es ist ja nicht dieselbe Hose!

Von der Würde der Menschen ganz zu schweigen, die sich als Bittsteller fühlen und nicht so selbstverständlich von ihren Rechten, wie Wohngeld oder sonstigen Transferleistungen Gebrauch machen wollen oder denen es schwerfällt, sich bei der Antragstellung bis ins kleinste Detail offenbaren müssen. Solche Menschen soll es, auch wenn man es nicht für möglich hält, auch noch geben.

Zur Krönung kann man dann auch noch in der Zeitung lesen, dass die KfW dem Steuerzahler durch eine einzige Überweisung an eine amerikanische Bank (obwohl schon bekannt war, dass die bereits pleite war) einen Schaden zwischen 300 und 500 Millionen Euro beschert hat. Das nenn ich gute Arbeit. Da sind die Beträge, bei denen es um Ludwigsfeld ging, im wahrsten Sinne des Wortes "peanuts", allerdings mit weitreichenden Folgen für die Menschen, die es betrifft.

All das macht mich unendlich wütend.

Trotz allem Ludwigsfelder, seid stark, versucht unsere Gemeinschaft nicht ohne weiteres aufzugeben, haltet noch mehr zusammen und hofft mit mir auf ein Wunder!!!

Vielleicht so, wie in dem Theaterstück im Rahmen der TSV-Feierlichkeiten.
Vielleicht gibt es in der großen weiten Welt einen ehemaligen stinkreichen Ludwigsfelder, der uns "zurückkauft" und uns so unsere Seele wiedergibt.
Und, wir sind ja nicht kleinlich, es darf auch ein Nicht-Ludwigsfelder sein.

In diesem Sinne, lasst uns den Ludwigsfelder Traum in unserem noch bestehenden Paradies träumen und wer weiß, wenn man ganz fest daran glaubt.... !?

Irene - und für die Ukrainer usw. - Irena Jazenko

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